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WAS EINER ALLEIN NICHT SCHAFFT, SCHAFFEN VIELE

Kultursommer Rheinland-Pfalz 2018 steht unter dem Leitmotto „Industrie-Kultur“

Von Andreas Pecht

 

Um auf dem Neuwieder Luisenplatz beim Start des Kultursommer Rheinland-Pfalz (27.4. bis 29.4.) unter Anleitung des französischen Künstlers Olivier Grossetête ein riesiges Haus aus Pappkartons aufzubauen wird dieses Mädchen viele helfende Hände brauchen. Foto: KuSo/Sebastien LavalEs hat ein gescheiter Kerl oder ein kluges Weib über den ersten Text – nach dem obligaten Grußwort des Landeskulturministers – im Programmheft für den Kultursommers Rheinland-Pfalz (KuSo) 2018 diese Überschrift gesetzt: „200 Jahre Reben und Rüben: in Glas gepresst, in Stein gemeißelt, in Stahl gegossen und auf dem Rhein verschifft.“ Die augenzwinkernde Headline erfasst schön das Problem des Landesfestivals mit seinem diesjährigen Leitmotto, das da heißt: „Industrie-Kultur“. Zu 40 Prozent mit Wald bedeckt, die übrige Landfläche zu beträchtlichen Teilen für Wein- und Gemüseanbau verausgabt, ist Rheinland-Pfalz nunmal ein weithin agrarisch und ländlich geprägtes Bundesland. Der Mangel an echten Großstädten ist signifikant. Die vier, die wir de jure haben, sind de facto doch ziemlich klein. Koblenz und Trier krebsen an der 100 000er-Marke rum. Die zweitgrößte, Ludwigshafen, ist mit ihren 164 000 Einwohnern eher eine BASFWerkssiedlung. Und Mainz versprüht mit seinen knapp 210 000 Einwohnern auch nur deshalb etwas Großstadtflair, weil es mit Wiesbaden und Frankfurt zusammen einen urbanen Ballungsraum bildet.


Das hören die Mainzer nicht gern, und alle anderen rheinland-pfälzischen „Großstädter“ auch nicht. Denn Lokalpatriotismus ist ein starkes Gefühl, das einen über allerhand hinwegsehen lässt; ein Gefühl, das naturgemäß das eigene Lokal als schönstes empfindet und zum Nabel der Welt macht. Immerhin ist Lokalpatriotismus die angenehmste Art von Patriotismus, weil: Es wird nicht gleich geschossen. Woher aber nimmt nun der Kultursommer heuer die „Industrie-Kultur“? Zumal viele der wenigen noch kleineren Mittelzentren im Land an ihrer seit Jahrzehnten verblühenden und zuletzt arg welken Industrialität mehr leiden als sich erfreuen: der Bims- und Stahlstandort Neuwied, der Montanstandort Wissen/Sieg, die Schuhmetropole Pirmasens, das deutsche Zentrum für Edelsteine Idar-Oberstein etc. Sie alle sind vormalige Industrie-Kleinstädte in Konversion, in Umwandlung. Wobei bis dato niemand recht weiß, ob und in welchem Fall Umwandlung vielleicht irgendwann etwas anderes bedeutet als industrieller Niedergang. Keiner weiß, ob diese Orte Wege zu neuen Ufern finden – oder letztlich das Schicksal der sie umgebenden Dörfer teilen und infrastrukturell völlig ausbluten.


Wie also kommt Rheinland-Pfalz dazu, eine eigene Industrie-Kultur zu würdigen, sich ihrer vergewissern zu wollen? Einer Kultur, die es, im Unterschied etwa zum benachbarten NRW oder Saarland, als das kollektive Bewusstsein prägendes Momentum in der Fläche weder traditionell noch aktuell gibt? Simple Antwort: Man verfährt punktuell, dreht das Prinzip des WDR einfach um. Der in der echten Millionenstadt Köln ansässige ARD-Sender besingt für seine Heimatformate liebend gern naturschöne Ziele innerhalb des und rund um den dominanten Industriemoloch Ruhrpott. Der diesjährige KuSo Rheinland-Pfalz lenkt demgemäß die Aufmerksamkeit auf lokale, vor allem ehemalige industrielle Enklaven inmitten der sprichwörtlich dominanten Reben und Rüben zwischen Südpfalz und Oberwesterwald. Und siehe, es findet sich hier, da, dort so allerhand; quantitativ oft klein, aber an Zahl und (einstiger) qualitativer überörtlicher Bedeutung doch größer als selbst von Hiesigen meist angenommen. Und siehe ferner: In einem Bundesland, dessen Kulturförderung finanziell seit Jahr und Tag mit der roten Laterne hinter allen anderen Bundesländern herstolpert, machen kulturaktive und -affine Menschen aus der industriellen Not kulturelle Tugenden.


Koblenzer Kufa, Sayner Hütte, Stöffel-Park Westwerwald, Kulturwerk Wissen, Trierer Tuchfabrik (Tufa), Bengel-Fabrik Idar-Oberstein, Mainzer Kunsthalle, Kammgarn Kaiserlautern und zahlreiche Locations mehr: All diese vormaligen, vielfach über Jahrzehnte vom Dornröschenschlaf des Verfalls umfangenen Industriebauten sind zumeist auf die Anfangsinitiative von Bürgern und Kulturschaffenden hin Heimstätten für Kultur und Künste geworden. In ihnen verbindet sich örtliche Industriegeschichte mit kulturellem Schaffen. Ergebnis ist „Industrie-Kultur“ in verändertem Sinne, die nun auch im Zuge des diesjährigen Kultursommers quasi summarisch landesweite Würdigung und Wertschätzung erfährt. Ein Teil der 200 vom Kultursommer geförderten Projekte spielt zwischen Ende April und Ende Oktober in solchen vormals industriellen Locations. Manche Veranstaltung greift dabei auch künstlerisch den Genius loci und/oder das Industrie-Thema in vielen ihrer kultur- und gesellschaftshistorischen bis gegenwartsrelevanten Aspekten auf. Literatur, Theater, Musik, Bildende Kunst, Philosophie, Polit-Ökonomie, Industriearchäologie wollen interessante und/oder unterhaltsame Beiträge liefern.


Passend zum Motto startet der KuSo 2018 am letzten April-Wochenende (27. bis 29.4.) im ehemals mittelrheinischen Industriezentrum Neuwied. Das die ganze Innenstadt bespielende Eröffnungsprogramm bietet eine Fülle künstlerischer Aktionen, deren Gelingen vielfach vom Mittun des Publikums abhängt. Schließlich steht das Wochenende unter dem sympathischen Solidargedanken: „Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele.“ Dieser Satz stammt vom Westerwälder/Neuwieder Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Dessen 200. Geburtstag wird in diesem Jahr begangen, unter anderem mit einer Ausstellung im Landesmuseum auf der Festung Ehrenbreitstein.


Während Raiffeisens Genossenschaftsidee heutzutage weltweit als solidarisch orientierte Alternative zur Kaltschnäuzigkeit des Konzernkapitalismus wieder auf dem Vormarsch ist, scheinen die revolutionären Ideen eines Zeit- und Regionalgenossen Raiffeisens vorerst ausgedient zu haben: Karl Marx, bekanntester Sohn der Stadt Trier und wohl der berühmteste Rheinland-Pfälzer mit dem selbst unverschuldet heutzutage schlechtesten Leumund überhaupt, kam ebenfalls 1818, also vor 200 Jahren zur Welt. Mit einer international erwartbar stark beachteten Großausstellung im Landesmuseum Trier und mehreren anderen Präsentationen in der Moselstadt wird über das Sommerhalbjahr Marx als bedeutender Philosoph, Wirtschafts-/Gesellschaftsanalyst und Sozialrevolutionär gewürdigt sowie die Auseinandersetzung mit seinem Lebenswerk gesucht.


Raiffeisen und Marx: Es ist kein Zufall, dass solche Geister zusammen mit der sprunghaft sich entwickelnden Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert auftauchten. Und es wird eine der spannendsten Fragen am Rande eines vergnüglichen bis nachdenklichen Kultursommers sein, ob und wie die unterschiedlichen Blickwinkel und Ansätze der beiden nutzbar gemacht werden können für die in Gegenwart oder naher Zukunft unvermeidliche Zivilisierung und Vermenschlichung des globalen neoliberalen Industrialismus.


Infos zum KuSo-Programm landesweit: www.kultursommer.de

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