Total daneben
Quergedanken im November 2013 von Andreas Pecht
In aller Bescheidenheit halte ich mich für einen, der sein Hirn in der Regel halbwegs zu gebrauchen weiß. Gelegentliche Ausnahmen bestätigen dieselbe. Nun passieren aber Sachen, die ich ums Verrecken nicht begreife. Wie kann jemand auf die Idee kommen, „Tal total“ ohne für Autos gesperrte Rheinufer-Bundesstraßen abhalten zu wollen. Das wär' wie Münchner Oktoberfest ohne Bier, Rhein in Flammen ohne Feuerwerk oder Rosenmontagszug im Wald.
Es war doch gerade das Geniale an „Tal total“, dass B9 und B42 im Mittelrheintal alljährlich einen Tag vom Auto befreit sind und radelndem, skatendem oder sonstwie nichtmotorisiert kreuchendem Volke total überlassen bleiben. „Autofreies Rheintal“ ist der Wesenskern der 1992 als Trendsetter entstandenen Veranstaltung. Inzwischen zu teuer, zu aufwändig und von 150 000 auf 70 000 Teilnehmer geschrumpft? Je nu, wenn's nicht mehr geht, dann bringt die Sache halt zu einem sauberen Ende. Jede Mode hat ihre Zeit, diese ist vielleicht abgelaufen. Doch quetscht „Tal total“ nicht als zwar berühmte Marke, aber mit bald völlig anderem Inhalt total daneben auf den Radweg.
Anderes Thema, ebenso unbegreiflich: Warum nur sind Heerscharen von Firmen hinter meinen Personaldaten und meinem Netzprofil her wie der Teufel hinter der armen Seele? Angeblich bezahlen sie Google, Facebook und sonstigen hinterfotzigen Infosammlern sogar Geld dafür. Dass Geheimdienste das machen, ist zwar widerwärtig und revolutionswürdig, entspricht aber immerhin geheimdienstlicher Logik: Alles über alle wissen, um alle und alles unter Kontrolle zu haben. Was jedoch wollen Auto-, Möbel-, Versicherungs- oder Reisevermarkter etc. nebst der ganzen Bagage von Internethändlern mit meinen Daten? Antwort allenthalben: Dich mit zielgenau personalisierter Werbung zusch(m)eißen.
Ach Gott, das mit der Werbung habe ich auch nie begriffen. Die Werbefuzzis würden sich sofort erschießen, bekämen sie nur einmal mit, wie unsereins mit ihren Kreativergüssen umgeht: Gedrucktes unbesehen in die Tonne, Elektronisches per Spezialsoftware unterdrückt, TV-Werbung weggeschaltet, Telefonwerbung brutal abgewürgt. Wer mich erpressen will mit einem „Angebot nur noch bis ...“, mich einwickeln will mit „stylisch, ultimativ, optimal“ oder anlügt mit „beispiellos billig, schon ab XX Euro“, der hat sofort gewonnen – meine Abneigung. Hübsch gestaltete Sachinfos über was, wann, wo, zu welchem Preis gehen gerade noch an. Jede andere Ranschmeiße provoziert bei mir manchen Reiz, aber gewiss keinen Kaufreiz.
Und der Internet-Einkaufs-Hype geht mir sowieso am Allerwertesten vorbei. „Vorsicht, die halten dich für bekloppt“, warnt Freund Walter. Ist mir egal. Ich kaufe überhaupt nichts mehr im Internet, ich gehe einkaufen. Warum? Weil ich in den 60/70ern erlebte, wie die damals neuen Supermärkte und Kaufhäuser der Stadtzentren die Infrastruktur in Stadtteilen und Dörfern zertrümmerten. Weil ich seit den 80/90ern erlebe, wie die Gewerbegebiete auf der grünen Wiese den Zentren die merkantile Vielfalt austreiben. Weil ich jetzt nicht erleben will, dass der Internethandel (auf dem Rücken von Billiglohnsklaven) den letzten Rest von Urbanität aus verödenden Städten drängt. Herrschaften, wir alle stimmen mit den Füßen ab über die künftige Qualität unseres Lebensraumes. Lasst uns nicht schon wieder total daneben greifen – bloß aus Bequemlichkeit und Geiz.
Der Autor im Internet: www.pecht.info